Ayelet Gundar-Goshen: Die Lügnerin, Kein & Aber
Als Psychologin weiß sie, wie tief menschliche Verletzungen wurzeln und wie sie unser Verhalten prägen. Ayelet Gundar-Goshen hat bereits mit „Eine Nacht, Markowitz „ und „Löwen wecken“ in ihrem Erzählen die
menschliche Seele bloß gelegt, nun gelingt ihr das wieder auf faszinierende Art mit ihrer neuen Hauptfigur: Nuphar, eine Schülerin im Abschlußjahr, die in den großen Ferien als Eisverkäuferin jobbt. Nuphar träumt davon, endlich
etwas zu erleben, etwas, mit dem sie in der Schule glänzen kann. Sie will richtig dazu gehören, nicht länger die picklige-pummlige Außenseiterin in ihre Klasse sein. Sie leidet unter ihrer Bedeutungslosigkeit: „Bisher war ihr nie
etwas zugestoßen. Kein Abenteuer. Keine Verwicklungen. Sie führte nun schon seit mehr als 17 Jahren eine harmlose Existenz auf dem Nebengleis.“
Das ändert sich, als der Sänger Avischai Milner die Eisdiele betritt. Nuphar korrigiert
seine Grammatik, als er eine Bestellung aufgibt, daraufhin beginnt Milner, das Mädchen auf wüste Art zu beschimpfen. Nuphar ist gedemütigt, ihr wird bewusst, „dass dieser Mann ihr den Hals umgedreht und ihr Wesen getötet hatte.“
Sie lässt den Eisbecher fallen, stürzt hinaus in den Hinterhof und schreit … „In ihrem Schrei lag die Kränkung , die der Mann ihr zugefügt hatte. In ihrem Schrei lag die Kränkung, die sich selbst zugefügt hatte. In
ihrem Schrei lag die Enttäuschung dieses Sommers und all der Sommer davor. Sie schrie und schrie und schrie und hörte nicht, dass die Martinshörner der alarmierten Polizeiwagen ihr antworteten...“
Und plötzlich ist eine Lüge
in der Welt. Eine Lüge, die Nuphars Leben komplett verändert. Plötzlich passiert etwas mit ihr, sie steht im Scheinwerferlicht, blüht auf, entwickelt Schönheit und Selbstbewusstsein. Und mit Nuphars Veränderung wächst und
gedeiht die Lüge. Auch in Nuphars Umfeld. Lavie, der Junge von oben aus dem vierten Stock über der Eisdiele, erschleicht sich mit einer Lüge Respekt und Zuwendung. Endlich nimmt sein Vater ihn wahr. Und die alte Raymonde gibt vor, Rivka zu sein
und bekommt endlich die Aufmerksamkeit, die sie sich wünscht. „Manchmal erfindest du Dinge, nur um ein bisschen weniger allein zu sein...“, sagt sie zu Nuphar, als beide sich ihre Wahrheiten beichten. Was ist nun richtig? Wie kann es falsch
sein, wenn manche Menschen erst durch eine Lüge schön und glücklich werden? Wo sind die Grenzen und wann muss man einfach die Wahrheit sagen? Ayelet Gundar-Goshen lotet die Untiefen auf, benennt die gefährlichen Strudel, die in die Abwärtsspirale
ziehen und setzt den Schlussstrich: Wenn Liebe wachsen und gedeihen soll, muss die Lüge weichen...